Mittwoch, 29. Juli 2015

Lebenslänglich für Lebensmittel

KKommentar
Lebenslänglich für Lebensmittel
Über das Problem des Kostendrucks und der geteilten Verantwortung



UnKKonform und manchmal sogar tödlich: Erdnussbutter


2008 wurde Stewart Parnell, der Inhaber einer Firma, die sich mit der Verarbeitung von Erdnüssen beschäftigte von seinem Mitarbeitern gewarnt, dass die aktuelle Charge seiner Erdnussbutter ein Problem mit Salmonellen habe. 

Seine Antwort in einer Email war: 
"Sch**sse, versendet es trotzdem, ich kann mir nicht leisten, einen weiteren Kunden zu verlieren."

Die Folge: 700 Menschen wurden krank, 9 starben.


Die Quelle wurde zurückverfolgt, die Firma geschlossen und ging bankrott.

Vor ein paar Tagen nun wurde er schuldig gesprochen in 71 Verstössen gegen geltendes Recht und zum 21. September 2015 wird das Strafmass verkündet.

Zum ersten Mal in der Geschichte wird für einen Lebensmittelskandal ein Urteil erwartet, das auf "lebenslänglich" lautet, die Staatsanwaltschaft dort hat das jedenfalls beantragt, und viele Experten halten ein solches Urteil für wahrscheinlich.


Seinen Bruder erwartet eine 21-jährige Haftstrafe, die Qualitäts-Kontrolle-Managerin wird mit ca 10 Jahren rechnen müssen.

Soviel zum Stand der Dinge.

Jetzt muss man natürlich berücksichtigen, dass es sich dabei um das amerikanische Rechtssystem handelt, das in verschiedenen Bereichen einfach komplett anders läuft als unseres. Unvergessen die Millionen-Abfindungen für Pudel und den heissen McDonalds-Kaffee, wegen dem jetzt "Achtung Inhalt ist heiss" auf den Pappbecher steht.


Und möglicherweise haben wir auch andere Sicherungssysteme, oder eine bessere Ethik.

Aber in ein paar Bereichen sollte uns das schon ein wenig nachdenklich werden lassen:


Kostendruck für die kleinen Unternehmen

Wir hatten ja in der letzten Zeit immer mal wieder Fleischskandale, bei denen abgelaufenes Fleisch (oder: wer erinnert noch die Pferdefleischlasagne?) in den Handel kam und genüsslich weil unwissend von den Verbrauchern verzehrt wurde. Das Praktische daran: Die Beweismittel werden vom Nutzer gleich mit vernichtet. Und noch etwas ist schwierig - man isst über den Tag verteilt eine Menge verschiedener Dinge und spürt dann vielleicht ein Unwohlsein aber kann kaum verbindlich sagen: "Es war das Hackfleisch und nein, ich habe die Kühlkette nicht unterbrochen, ich kann das beweisen." 

Wenn nun der Wettbewerb zwischen den Unternehmen derart gross ist, dass ein Unternehmer bei uns eine ähnlich fatale Fehlentscheidung trifft, weil er sonst seine Mitarbeiter nicht bezahlen kann - dann muss er nicht einmal ein gieriger Mensch sein - es reicht schon, wenn es ums nackte Überleben geht. Und bis dann die Sicherungssystem greifen ist es möglicherweise längst für einige Verbraucher zu spät, wenn's richtig dicke kommt. 

Am obigen Beispiel sieht man ja auch, dass mindestens noch zwei weitere wohl mindestens so weit informiert waren, dass es für den Schuldspruch gereicht hat. Auch die haben geschwiegen. Und wie wäre das bei uns?

Mit welcher Wahrscheinlichkeit würde bei uns jemand rechtzeitig den Mund aufmachen und sagen "Wir haben ein Problem, unser Chef ignoriert es, ich kann das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren..." Als die Erdnussbutter-Maschine vom Netz genommen wurde verloren 90 Mitarbeiter ihren Job. Wegen der Zwangsschliessung. Aber hätten sie ihn vielleicht auch verloren, wenn der Chef die fragliche Charge zurückgehalten hätte und sie deshalb möglicherweise einen Kunden verloren hätten?

Wir hatten in der letzten Zeit ein paar Nuss-Mus-und-Ähnliche-Rückrufe, teilweise wurden daraufhin ganze Sortimente aus den Handelsketten verbannt. Ich könnte mir gut vorstellen, dass das vor einem sehr ähnlichen Hintergrund geschah. Vermutlich rechtzeitig? Wer weiss das schon.


Die verwaschene Verantwortung der grossen Konzerne


Wie würde das aber dann bei einem richtig grossen Konzern aussehen? 
Wen würde man denn dort verantwortlich machen können? 
Den Leiter des Qualitätsmanagements? Der war gerade im Urlaub. 
Dann den Stellvertreter. Sorry - Elternzeit. 
Stellvertreters Stellvertreter? Betriebsbedingt gekündigt, wegen der Einsparmassnahmen...
Ah, dann den Vorgesetzten? Hm, woher hätte der das bitteschön wissen sollen? 

Gut, aber dann die Mitarbeiter, die es festgestellt haben? 
Die schrieben eine Email an den Leiter, der im Urlaub war. 
Falls sie überhaupt qualifiziert genug waren, das Problem festzustellen, denn eigentlich sind es alles fachfremde Leiharbeiter, die nur die Maschinen bedienen und wegen des geringeren Lohns ohnehin nicht sehr motiviert sind.

Ich sehe hier eine ganz schön grosse Lücke an Verantwortlichkeit klaffen, über die man einmal intensiv nachdenken sollte.

Wen sollte man greifen? Wer ist denn eigentlich verantwortlich am Ende?

Könnt Ihr Euch vorstellen, dass der Unilever-CEO lebenslang ins Gefängnis geht, sollte jemals nachgewiesen werden können, dass das Becel pro activ tatsächlich die von foodwatch monierten Gesundheitsrisiken in sich trug und die Warnhinweise auf der Packung nicht zum Spass waren - sondern sich tatsächlich ein paar ans Herz fassten bevor sie über den Jordan gingen? Weil sie sich fleissig die vermeintlich ach so gesunde Margarine aufs Weissbrötchen schmierten? 
Nein? Wer dann? 
Der Forscher in Diensten von Unilever, der die Unbedenklichkeit bescheinigt hat?


Ich sehe hier zwei Möglichkeiten:
Entweder, wir verlassen uns auf die ethische Integrität der Entscheider.
Oder wir sorgen für klare Verantwortlichkeiten und setzen dann auch entsprechend empfindliche Strafen tatsächlich um. Und verlassen uns auf die Abschreckung. 
Momentan sehe ich allerdings eher, dass genau das nicht geschieht.

In jedem Fall befürchte ich, dass beides - der allgemeine Preisdruck und die verwaschene Verantwortung allenthalben - ein sehr labiles Umfeld erzeugen, das die reale Gefahr in sich trägt, dass wir nicht mehr all zu lange auf einen Fall warten müssen, der dem der Peanut Corporation of America gleicht.


Bis später.




Weiterführende Links:
Rawstory: Life sentence for food exec (englisch)
Wiki: Peanut Corporation of America (englisch)



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